„Die Bundesregierung hat eine positive Sicht auf die Konzepte der flexiblen Schuleingangsphase sowie der Mehrstufenklassen und unterstützt die Umsetzung im Rahmen der Schulautonomie.“

Regierungsprogramm 2020-2024, S. 293

Sehr geehrter Herr Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung!

Namens zahlreicher engagierter Pädagoginnen und Pädagogen (besondersaus dem Volksschulbereich, aber auch weit darüber hinaus) richten wirmit diesen Zeilen den Appell an Sie als zuständigenRessortverantwort-lichen: Ermöglichen Sie zumindest den im Regierungsprogramm adressierten Modellen altersgemischter Lerngruppen (flexible Schuleingangsphase und Mehrstufenklassen) an öffentlichen Schulen die Beibehaltung und Weiterentwicklung der jahrzehntelang und österreichweit aufgebauten alternativen Leistungs-und Rückmeldekultur – unter gänzlichem Verzicht auf Ziffernnoten!

Im Jänner 2020 haben in Vorarlberg Eltern-Lehrer*innen-Initiativen zugunsten einer autonomen Wahlfreiheit für die Leistungsbeurteilung („Nein zum Notenzwang –Ja zur Wahlfreiheit der Beurteilungsform“) starkes öffentliches Echo gefunden. Eine in Wien von Eltern gestartete „Parlamentarische Bürgerinitiative für die Ermöglichung der alternativen Leistungsbeurteilung ohne Noten im Rahmen der Schulautonomie“ wird (coronabedingt zwei Monate später als geplant) Anfang Juni der Parlamentsdirektion mehrere tausend Unterschriften übergeben. All diese Elterninitiativen und die hundertfache pädagogische Erfahrung und Expertise unterstreichen die Dringlichkeit unseres Anliegens für viele Menschen.

Wie Sie wissen, sind die mehr als 3.000 Schulversuche zu einer alternativen Leistungsbeurteilung im Zuge der Schulreformgesetze 2016 in einen neuen gesetzlichen Rahmen standortautonomer Festlegung übergeführt worden.Laut einer Erhebung des BMBWF im Frühjahr 2017 hatten sich fast 2/3 aller 2.990 Volksschulen autonom für eine alternative Leistungsbeurteilung auf der 1.Schulstufe entschieden, auf der 2. Schulstufe 42% und auf der 3.Schulstufe immerhin auch noch 358 Volksschulstandorte (13 %) aus ganz Österreich gegen eine Notengebung ausgesprochen und eine alternative Form der Beurteilung und Rückmeldunggewählt –ganz autonom, ohne ministerielle „Zwangsbeglückung“. Aus pädagogischer Überzeugung.

Wie Sie vielleicht nicht wissen, hat der unten angeführte Erstunterzeichner gemeinsam mit betroffenen Schulleiterinnen und Pädagoginnen am 14. 11. 2016einenAppell an Ihre Amtsvorgängerin BMin Sonja Hammerschmidgerichtet, um einen im Gefolge der Schulreformgesetze 2016 ausgesandten Verordnungsentwurf zur Leistungsbeurteilung in der geplanten Form zu verhindern. Derzufolge hätten die Klassen zwar eine alternative Leistungsbeurteilung autonom festlegen können, aber durch eine anders umschriebene Bewertung erst recht wieder eine ziffernnotenähnliche Skala ausweisen müssen. Unser begründeter Einwand fand damals öffentlich und im Ministerium Gehör und es wurde eine zumindest modifizierte Verordnung erlassen–auch wenn diese mit ihrer 4-stufigen Umschreibung pädagogisch ebensonicht wirklich zufriedenstellend war.

Wir hoffen nun aus aktuellem Anlass auf Ihr Gehör als Leiter des Bildungsressorts und appellieren an Sie: Setzen Sie sich für eine Erweiterung der schulautonomen Entscheidungsmöglichkeit bei flexiblen Schuleingangsmodellen und Mehrstufenklassen zumindest bis zum Ende der 3. Schulstufe ein! Dies steht imexpliziten Einklang mit der oben zitierten Passage aus der Regierungserklärung 2020-2024 – nach gerade und ganz besonders in altersgemischten und meist auch inklusiv geführten Lerngruppen sind Ziffernnoten ein Störfaktor für die permanenten und sehr individuellen Leistungsrückmeldungen an Kinder und Eltern. Angesichts der zwei Monate dauernden Ausnahmesituation durch die Corona-Pandemie appellieren wir ganz aktuell auch: Ermöglichen Sie all jenen zweiten Volksschulklassen, die zum Halbjahr noch alternativ beurteilt haben, den Lehrer*innen, Eltern und vor allem den Kindern diese Form der persönlichen Rückmeldung auch zum Schuljahresende im Juni 2020. Wenn bei anderen Klassen die Noten der Schulnachricht vom Halbjahr übernommen werden sollen, ist es nur folgerichtig, dass eine alternative Beurteilung vom Halbjahr nun auch fortgesetzt werden kann.

Tausende österreichische Grundschulpädagoginnen und viele Menschen darüber hinaus werden die Hoffnung nicht aufgeben, dass eine im Sinne der Lernfreude und Leistungssteigerung nachweislich begründete, ziffernnotenfreie Beurteilung während der ersten Schuljahre entweder generell oder zumindest schulautonom möglich wird –so wie es mittlerweile in vielen europäischen Ländern üblich ist, in mehreren Staaten sogar für die gesamte Pflichtschulzeit. Auch die österreichische Pflichtschullehrerinnen-Gewerkschaft setzt sich für eine autonome Entscheidungsfreiheit an den Schulen ein.

Mit erwartungsvollen Grüßen!
Wien, 2. Juni 2020